
„Ich will auch keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll ich jemandem sagen, dass ich mich verändere? Wenn ich mich verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas Anderes als bisher, so ist klar, dass ich keine Bekannten habe. Und an fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben.“
(„Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, Rainer Maria Rilke)
...
Baltimore, Maryland, August 29, 2009 - 12:49 am
Alles ist ganz durcheinander.
Abend-Ausverkauf bei Dunkin Donuts – zwei fette Tüten mit Muffins und Donuts für 5$.
„Entschuldige meine behinderten Ergüsse um die Uhrzeit!“
Die dicke schwarze Frau, die an der Kasse bei TJ Maxx ansteht (einem riesigen, unordentlichen Outlet), sich umdreht und anfängt über ihre lustigen Unisex-Spongebob-Shorts zu quatschen, die sich doch so cool zum Schlafen eigneten und dann noch eine Entscheidungshilfe braucht, welche Handtasche sie nehmen soll – die graue oder die eher hellbraune?
Der Spontankauf eines absolut kitschigen grünen Glasapfels, nur um des Grüns Willen – ich geh doch kaputt in meinem blauen Zimmer.
„Ich mag dein loses Mundwerk!“
Mein Gastpapi, der tatsächlich fragt: „Do you have Mosquitos in Germany?“
Überall Mückennetze an den Fenstern – ich komme mir so eingesperrt vor.
Unnütz laufende Autos.
Supermarktregale in außerirdischen Dimensionen – für künstliche Blumen.
Automaten, die für $1 eine DVD für eine Nacht ausspucken.
Vor Abfahrt heute und nach „Dienstschluss“ hab ich mal den Weg am Fuße unseres Hügels erkundet, der entlang des Bronx Rivers verläuft. Es hat geregnet und ich bin wie ein Kind mit meinen Gummistiefeln durch die Pfützen gepatscht. Zum ersten Mal seit zwei Wochen, war ich draußen irgendwo mal ganz allein. Nur ich und die Musik. Und wieder kam ich mir vor wie im Film. Wahnsinnig hohe Bäume wachsen entlang des Flusses. Dieser Wald erinnert mich so an Twilight. Voller Regen, grün, dunkel und so verdammt verschwiegen. Und zum ersten Mal seit Jahren bin ich spazieren gegangen, ohne eine Zigarette zu rauchen. Ich lebe so gesund. Ziemlich abartig. Kein Alkohol, keine Zigaretten, jeden Tag Obst (uäh?!), spazieren gehen, früh schlafen. Was’n da los?!
Als wir im Dunkeln dann losfuhren und nachdem die drei Quälgeister um mich herum eingeschlummert waren, staunten meine Augen nicht schlecht über die George Washington Bridge zwischen New York und New Jersey. Ein ähnliches Lichtermeer bot Manhattan in der Ferne. Auf dem Highway fiel mir mal wieder auf, dass es doch erst die Lieder sind, die Momente so besonders machen. „Ain’t no mountain high enough“ strahlte mir in die Ohren und so wie in diesem Augenblick, kehrt bei mir insgesamt allmählich ein Glücksgefühl ein.
Gestern, auf dem Weg mit Svenja zu TJ Maxx lief „Sometimes Love“. Amerikanischer Massenpop, die Sonne stand uns ins Gesicht und wir glitten die Central Avenue entlang - auf direktem Wege ein paar Monaten Spaß und Wahnsinn entgegen.
Die coolste Begegnung der Woche, war ein zufälliges Babysittertreffen im Park. Alle Kinder waren beschäftigt und so saß ich mit drei schwarzen Babysitterinnen in der Gegend rum und ließ mir vom Klatsch und Tratsch unserer Nachbarschaft berichten. Es hatte was von einem Nachmittag in der Bronx. Drei dicke Big-Mamas, die, während die Kinder kreischend drum herum liefen, im Schatten der Bäume schnattern, lästern und einem weißen Mädchen verklickern, wie der Hase so läuft – hier in der Vorstadt von New York City!
6:21 pm
Ich schwinge auf der Hollywoodschaukel unter einem großen Baum am Ufer der Bucht. Sonnige Abendluft füllt meine Lungen und meine erste in den USA erstandene CD düselt vor sich hin. Lifehouse, „Who we are“. Ich habe heute bei Walmart meinen ersten „Shop“ absolviert. „Gute Frau, wo kann ich einen Fön finden?“ „Bei den Staubsaugern – believe it or not!“ Die Leute hier haben wirklich Humor.
Gleich gibt es Krabben, die mein Gastvater heute gefangen hat und gerade mit seinem biertrinkenden, kräftigen mid-zwanziger Cousin zubereitet. Egal, wie es schmeckt – ich glaub, dann leg ich mir so ein Trottel-Shirt mit einer Krabbe und der Aufschrift „I had crabs in Baltimore“ zu, welches ich heute in Baltimore City gesehen hab. Das Jahr der Style-Vaupas hat schließlich begonnen. Wer sagt hier schon, was sich gehört und was nicht?
Ähnlich begeistert bin ich von den Radio-Stationen hier. Der eine Sender hat heute schon allein drei verschiedene Lieder der Smashing Pumpkins gespielt. Meine Gasteltern haben beide zu The Offspring mitgesummt und –gesungen.
Im Fastfood-Restaurant „Five Guys“ dachte die Bedienung heute wohl ich bin völlig deppert, wahrscheinlich weil ich keinen wahnsinnig starken Akzent habe und immer ziemlich blöde nachfrage, wie das bei denen so funktioniert, denn hier herrschen ganz andere Sitten, was Gastronomie anbelangt.
Der nächste durchgeknallte Ami ist mir in den letzten Minuten begegnet. Ein Hund namens Harley, benannt nach Harley-Davidson, der mir immer einen Tennisball vor die Füße legt, damit ich ihn ins Wasser kicke und er ihn mir wieder bringen kann.
Manhattans Lichter zu meiner Rechten… wir rauschen über den Highway, im Radio läuft irgendwas von Nickelback. „…if today was your last day“. Die Kinder schlafen tief und fest und meiner Gastmutti fällt alle drei Minuten der Kopf nach vorne.
So langsam raff ich’s, glaub ich. Ich bin hier. Ich bin angekommen.
Ein entspanntes Wochenende liegt hinter mir. Mit Krabben schlemmen, buttrige Maiskolben abknabbern und im Motorboot quer über die Chesapeake Bay brettern. Was ist denn das für ein Leben, wenn die Sonne auf mich runter scheint, mir die Seeluft in die Nase steigt, meine Haare im Wind durch die Gegend flattern und das Boots-Radio Pearl Jam ausspuckt (schon der unfassbar guten Radiosender wegen, muss man es hier mögen) und das einzige, worüber ich mir Sorgen machen muss ist, dass… ähm.. pff.. keine Ahnung? Vielleicht, dass ich mein Geld, anstatt für Zigaretten nun als Ausgleich für Schokolade ausgebe und deswegen arm und dick werden könnte?
Eine recht kurze Woche liegt vor mir, denn der Freitag macht seinem Namen alle Ehre. Ein langes Wochenende inklusive einem absolut leeren Haus.
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